Stöbern auf der Bücherburg
Hund und Kulturprogramm müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Na klar läuft man mit seinem Hund eher durch die Wälder als durch Museen und das ist auch gut so…für den Hund zumindest. Aber an manch‘ einem verregneten Wochenende hat man vielleicht doch mal Lust auf Kultur anstatt Natur. Wer seinen Hund dafür nicht abgeben möchte oder kann, dem sei ein Ausflug auf die Bücherburg empfohlen.
Die Bücherburg heißt eigentlich Katlenburg und liegt im gleichnamigen Dorf im Landkreis Northeim in Niedersachsen. Auf der im 11. Jahrhundert entstandenen Burganlage, die später in ein Kloster umgewandelt wurde, gibt es einen historischen Burgspeicher. Auf den steuern wir mit Yeti an der Leine an einem Schietwetter-Sonntag im Februar zu. Es ist 10:30 Uhr, der Gottesdienst in der angrenzenden St. Johannes Klosterkirche ist gerade vorbei und Katlenburgs Pastor Martin Weskott öffnet, wie jeden Sonntag, die großen Holztore des ehemaligen Burgspeichers. Nun wird klar, warum die Katlenburg den Spitznamen Bücherburg trägt.
Yeti darf mit rein
Hinter den Toren verbirgt sich eine Welt die das Herz eines jeden Bücherfreunds höher schlägen lässt, eine Welt der Literatur. Über 50.000 Bücher stehen und liegen aufgetürmt oder in Regale sortiert in den alten Gemäuern. „Dürfen wir mit Hund rein?“ – Pastor Weskott nickt, „wenn er keinen Quatsch macht, kein Problem“. Es riecht nach altem Papier und es ist lausig kalt. Dicke Jacken sind angesagt, wenn man zur kälteren Jahreszeit in die Bücherscheune möchte.
Aber wie kommen denn nun all‘ diese Bücher auf die Katlenburg? Pastor Martin Weskott hat hier ein erstaunliches Bücherrettungssprojekt verwirklicht. Er bewahrt Bücher vor dem Müll, vor dem Vergammeln und Vergessen in Kellern und auf Dachböden. Viele Bücher stammen aus früheren Verlagen und Büchereien. Seine Literaturleidenschaft, die auf dem Gymnasium und während des Theologiestudiums entfacht wurde, führte zu einem Leben inmitten tausender Bücher. An die 10.000 Exemplare habe er selbst schon gelesen, verrät uns der Pastor. Läuft man den Treppenweg durch den Wald von der Burg hinunter in den Ort Katlenburg, kommt man an dem Fachwerkhaus vorbei, in dem Martin Weskott wohnt. Beim Blick Richtung Fenster sieht man auch dort Bücherstapel und kann die Literaturbegeisterung des Pastors erahnen.
Viele Tier- und Naturbücher im Fundus
Wir stöbern in den Büchern, die nach Rubriken sortiert sind und auch Yeti schnüffelt herum. Er hält aber wohl eher Ausschau nach Mäusen, die womöglich in den alten Burgmauern umher huschen. Tier- und Naturinteressierte finden eine immense Bücherauswahl, genau wie Reiselustige oder Geschichtsinteressierte. Besonders sind Texte aus der ehemaligen DDR, die in anderen Bibliotheken nicht zu finden sind. Bevor man sich in das Angebot vertieft, lohnt aber ein Rundgang durch die riesige Scheune, durch das Labyrinth aus Literatur, indem man hinter immer wieder anderen Ecken auf Skulpturen stößt. Es sind Kunstwerke aus Büchern – Romanrecycling.
Der Bücherpastor erzält
Pastor Martin Weskott, bekannt auch als der Bücherpastor, erzählt Interessierten gerne über seine Bücher-Rettungsaktion. Alles nahm seinen Anfang mit einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung im Jahr 1991. Als der westdeutsche Pastor las, dass in Plottendorf bei Leipzig tausende Bücher aus der ehemaligen DDR vernichtet werden sollten, fuhr er – angetrieben von der Liebe zur Literatur und politischem Zorn – spontan los, um die Bücher abzuholen. Weskotts eigene Familiengeschichte trägt einen Teil zur Empörung über die DDR-Büchervernichtung bei. Sein Großvater war zur Zeit des kalten Krieges Pfarrer in der nähe von Erfurt. „Er litt unter dem DDR-Regime und ist 1966 plötzlich verstorben“, berichtet uns der Bücherpastor. Die umfassende theologische Bibliothek seines Opas durfte als Erbe nicht über die Grenze nach Westdeutschland gebracht werden. „Zu uns kam nur das Klavier, ein Tisch mit vier Stühlen, eine Stehlampe und ein paar Bilder“.
Nach der ersten Bücheraktion in Plottendorf folgten mehr als 200 Fahrten in die neuen Länder, später dann kreuz und quer durch Deutschland. Auch Maik, der ursprünglich aus Katlenburg stammt und seinen Zivildienst beim Pastor in der Kirchengemeinde absolvierte, fuhr mehrmals mit und erinnert sich zurück, wie Transporter und Anhänger bis zur Decke voll gepackt wurden mit Büchern. Schnell sprach sich Martin Weskotts Projekt herum und so kam es, dass auch Wissenschaftler wie der Physiker Hans Lauche auf die Bücherburg kamen, um in den DDR-Beständen mehr über das Herstellungsverfahren von Bauteilen aus Magnesiumsilikat zu erfahren. Er wurde fündig und konnte eine Keramikfassug für ein Fotospektrum entwerfen, welches vom Max-Planck-Institut für die Saturn-Sonde Cassini genutzt wurde.
Bücher gegen Spende
Ein Anliegen des Bücherpastors ist es, die Literatur der DDR-Zeit vor dem Vergessen zu bewahren. Als Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung von Kultur und Literatur, initiierte er 1992 die Reihe „Müll-Literaten lesen – Begegnungen mit ostdeutschen Autoren“. 220 Schriftsteller aus der früheren DDR sind zu Lesungen nach Katlenburg und die umliegenden Gemeinden gekommen. Und auch jetzt noch finden regelmäßig Lesungen statt. Da sich inzwischen das Bücherspektrum durch Exemplare erweitert hat, die der Pastor in ganz Deutschland und auch im Ausland einsammelte, beschränkt sich der Fundus nicht ausschließlich auf DDR-Literatur. Mit wachsendem Bekanntheitsgrad des Projekts „Bücher weitergeben statt wegwerfen“, bekam Martin Weskott immer mehr Bücher aus Nachlässen und Angebote von Verlagen.
Die Bücher werden gegen eine eingeschätzte Spende abgegeben. Mit seinem Projekt konnte der Bücherpastor bereits 125.000 Euro an die Hilfsorganisation „Brot für die Welt“ spenden. Für seine Bücherrettung wurde ihm 1993 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Wer die Bücherburg mit Bücherspeicher beuschen möchte, sollte Sonntags kommen. Ab 10:30 öffnet der Bücherpastor sein Literatur-Labyrinth. Geöffnet ist meistens bis 13 Uhr, je nachdem wie viele Besucher da sind.
Und was noch? – Auf der Bücherburg und rund um den Burgberg
Wem nach der Bücher-Stöberei nach einer Stärkung zumute ist, der kann auf dem Burgberg direkt gegenüber der Bücherscheune in das Hotel/Restaurant Burg Katlenburg mit Burgstübchen und Gewölbekeller einkehren. Im Sommer sitzt man herrlich unter Bäumen auf der Panoramaterasse. Montags und Dienstags Ruhetag!
Schön Spazieren kann man unterhalb der Bücherburg am Fluss Rhume. Wie nehmen den Treppenweg durch den Wald hinunter nach Katlenburg. Dabei kommen wir als erstes an der uralten sagenumwobenen Eiche mit Steintisch vorbei, wo früher Gericht gehalten wurde. Unten angekommen geht es links Richtung Ort, rechst Richtung Rhume-Tal. Im Örtchen Katlenburg gibt es nicht so wahnsinnig viel zu entdecken. Freunde süßer Fruchtweine können der Katlenburger Kellerei einen Besuch abstatten, im Markenshop der Kellerei einen Probe-Drink nehmen und dort feucht-fröhlichen Proviant kaufen.
Mit dem Wohnmobil kann man über Nacht problemlos, ruhig, unter Bäumen und umsonst in den Parkbuchten der Straße parken, die hinauf zur Burg führt. Die Bücherburg Katlenburg ist im Ort ausgeschildert.
Übrigens: Nicht nur bei Schietwetter, auch im Hochsommer lohnt ein Besuch der Bücherburg. Dann ist der kühle Bücherspeicher eine Wohltat und die Grünflächen auf dm Burgberg laden zum Picknick ein.
Nachtrag
Seit Herbst 2018 gibt es im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig eine neue Dauerausstellung: „Unsere Geschichte, Diktatur und Demokratie nach 1945“. Pastor Martin Weskotts Bücherrettungs-Projekt wird darin auch vorgestellt. Zu Ostern haben Maik und ich die Ausstellung besucht und damit eine Zeitreise in die DDR und auch die Zeit der Wiedervereinigung gemacht. 2000 Objekte, Fotos und Filme veranschaulichen individuelle Geschichte und große politische Ereignisse. Besonders stolz bin ich darauf, das eines meiner Fotos der Katlenburger Bücherscheune dort präsentiert wird. Der Besuch der Ausstellung ist kostenlos. Zwei Stunden sollte man dafür mindestens einplanen. Im gleichen Gebäude mitten in der Leipziger Innenstadt gibt es auch noch eine Wechselausstellung. Anders als auf der Bücherburg, müssen Hunde hier allerdings draußen bleiben.
Super Geschichte … das fahren wir mal hin! Mit Hund!
Hey Sabine,
freut mich, dass ich Inspiration geben konnte.
Wenn Du tatsächlich hinfährst, meld Dich doch danach mal wieder und erzähl wie’s war.
Vor Ort nicht vergessen: Schöne Grüße an den Bücherpastor 😉
…und jetzt natürlich an Dich.
interessanter Beitrag